Sebastian Pranz

Die Medien-Virus-Krise

Wie berichten deutsche Qualitätsmedien über Corona? Dieser Frage ist ein studentisches Datenprojekt der Hochschule Macromedia nachgegangen: Die Studierenden aus Köln und Stuttgart untersuchten im Sommersemester 2020 insgesamt über 5000 Artikel von sechs Online-Zeitungen und -Magazinen. Dabei entstand eine Datenanalyse unter Leitung von Marlis Prinzing, Sebastian Pranz und Florian Stadel.
Die Journalistik-Studierenden arbeiteten sich wandelnde Berichterstattungsmuster, Blickwinkel und Schwerpunkte heraus und machten Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede in der Berichterstattung bei Spiegel, Süddeutscher Zeitung, Zeit, Tageszeitung (taz), Stuttgarter Zeitung und dem Kölner Stadtanzeiger aus. Auch scheuten sie sich im Nachgang nicht, den Onlineportalen Versäumnisse in der Themensetzung vorzuwerfen. Das Ergebnis ist eine umfassende Analyse der ersten Corona-Monate im Spiegel der deutschen Onlinepresse.*

Corona erfasst die Berichterstattung und dominiert sie rasend schnell

Corona hat die Medien beherrscht wie kein anderes Thema in den vergangenen Jahren. Zur Jahreswende war in kleinen Meldungen zunächst noch nur von einer rätselhaften Lungenkrankheit die Rede, die in der chinesischen Stadt Wuhan aufgetreten sei. Vom Coronavirus sprechen wir seit dem 7. Januar, als es chinesischen Wissenschaftlern gelang, den Erreger Covid-19 zu identifizieren, der zur großen Familie der Coronaviren gehört. Zum Medienthema Nummer eins avancierte Corona dann hierzulande mit den ersten Fällen in Deutschland Ende Januar. Besonders hohe Abrufzahlen erreichten die untersuchten Medien bei dramatischen Wendungen (totaler Lockdown in Italien, Maskenpflicht in Deutschland), prägnanten Äußerungen (Merkel spricht von einer Aufgabe mit historischem Ausmaß), aber auch bei Lockerungen von Schutzmaßnahmen etwa der Ausgangssperre.

Wie berichten die Medien über Corona?

Corona fordert die Redaktionen und das deutsche Nachrichtensystem heraus: Die Grafik zeigt, dass die Medien in der Krise vor allem ihrer informierenden Funktion nachkommen, während kommentierende Artikel eine kleinere Rolle spielen. Den größten Kommentaranteil verbuchte die links-alternative taz mit 29 Prozent, den geringsten der Kölner Stadtanzeiger mit neun Prozent. Beim ansonsten so meinungsstarken Spiegel lag der Anteil rein nachrichtlicher Darstellungsformen bei 83 Prozent, das war hierbei der Spitzenwert.

Virologen bestimmen das Agendasetting, Virologinnen nicht

Die Coronakrise ist die Zeit der Experten: An die 900 Artikel im Sample befassten sich mit Virologen, dem Robert-Koch-Institut oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Mit der Zahl der Erkrankten in Deutschland stieg das Interesse der Medien an der Einschätzung von Experten. Was aus der Grafik nicht ersichtlich wird: Bis auf Marylyn Addo (hier auf dem letzten Platz) waren vor allem männliche Virologen gefragt. Die Bevorzugung männlicher Experten und Interviewpartner ist indes kein Coronaspezifikum. Zahlreiche statistische Erhebungen beweisen, dass deutsche Redaktionen bei praktisch jeder Gelegenheit in erster Linie bei Männern Rat suchen und Meinungen abfragen.

Welche Deutungsmuster beherrschen die Berichterstattung?

Schon früh wurde China als Ursprung der Epidemie erkannt. Der Spiegel titelte Anfang Februar „Made in China“ und andere Medien folgten dieser Lesart. Das Deutungsmuster, China sei Ausgangspunkt des Problems, zieht sich wie ein roter Faden durch die Monate. Den vorläufigen negativen Höhepunkt markierte hier einmal mehr US-Präsident Donald Trump, der vom „China-Virus“ sprach. Als weitere Frames der Berichterstattung ergab die Datenanalyse unter anderem Corona als Herausforderung für den Zusammenhalt der Europäischen Union, eine mit der Krise überforderte Weltmacht USA oder, dass das Virus Verschwörungstheorien Vorschub leistet. In diesem Kontext wurde von Seiten der Studierenden vor allem dem Hamburger Nachrichtenmagazin der Vorwurf gemacht, zu wenig über die Verbreitung von Desinformation zu berichten.
*Datenbasis sind 5.100 Artikel aus den Online Ausgaben von ZEIT, Spiegel, SZ, KstA und Stuttgarter Zeitung, die nach thematischem Bezug auf Corona ausgewählt wurden. Jeder 4. Tag der Monate Januar bis April 2020 wurde manuell codiert, alle Artikel im Sample wurden zudem einer computerlingusitischen Analyse unterzogen. Die Daten liegen als interaktives Datenstück vor (Tableau).
Die Arbeit entstand im Sommersemester 2020 im Rahmen des Kurses „Orientierungsprojekt“ mit Studierenden aus Köln und Stuttgart. Wir danken David Klein/Tableau für fachlichen Support.